montblanc starwalker

von Dana Grigorcea

Frau Roscas Unterweisungen

 Ich wurde Schriftstellerin, weil ich Freude hatte an meiner Handschrift. Im Rumänien der Achtziger Jahre, als ich noch zur Schule ging, erlernte man das Schreiben mit dem Bleistift, um dann feierlich zur Füllfeder überzugehen – und zum Kalligraphie-Unterricht. 

Meine erste Füllfeder war eine grosse Enttäuschung, jener “chinesische Füller” mit dem plumpen, unhandlichen Körper, aus dem ein winziges, spitzes Zünglein herausschaute, das beim Schreiben ausspuckte und das Blatt zerkratzte. 

Vater zeigte mir im Vertrauen seine wertvolle Feder, mit der er nur zu Hause schrieb, weil die Kommunisten keine Extravaganzen schätzten. Er hatte sie bei einem Arbeitsaufenthalt als Bauingenieur in Irak gekauft, ein eleganter Parker 75 Cisele Sterling Fountain Pen, aus den USA, Herrstellungsjahr 1963 (“weshalb sind wir nicht im goldenen Bagdad geblieben? … Das wäre ein Leben gewesen!”) Vaters Füllfederhalter wies eine goldene Feder auf, die ich butterweich über das Papier führte. Ich schrieb damit “zur Kenntnis genommen”, mehrfach, setzte drunter meine Signatur. 

Was für eine Schrift ich haben konnte mit dem richtigen Schreibwerkzeug, das gut in der Hand lag und eine ausgewogene, mittlere Schreibstärke hatte! Ob ich die Feder irgendwie tarnen konnte, um sie doch noch nach draussen zu nehmen? Sie passte so gut zu mir. 

Vater versicherte mir, dass sich die Feder nach der Handführung seines Besitzers formt, dass ich also vorerst auch mit der chinesischen Feder auskommen konnte. Und überhaupt fange man von unten an, mit dem Schwersten, um sich irgendwann, viel später, sobald man dazu bereit sei, am Kunstvollen erfreuen zu können. 

Im Rückblick stelle ich fest, dass diese miese chinesische Feder, mit der wir damals fast alle schrieben, meine Handschrift geprägt hat. Der für meinen Geschmack viel zu dünnen, ja mickrigen Linie passte ich eine lange, leicht nach rechts geneigte Schrift an. 

Ich erinnere mich an zwei Mitschüler, Rumäniendeutsche, die auf den Bescheid zu ihrem Auswanderungsbegehren warteten und die gewöhnlich mit knallbunten Pelikan-Federn schrieben. Ihre Schrift war ebenfalls nach rechts geneigt, aber gross und ausladend, mit charaktervollen Ober- und Unterlängen. Aus der chinesischen Feder hingegen durfte man die Schrift nicht so schwungvoll hinschmeissen, sonst begann sie eben tief zu kratzen. 

Ich durfte einen der Pelikan-Füller halten und damit etwas Freiheit erleben, gab Gas beim Schreiben und schlug aus den Buchstaben nach oben und nach unten hin aus. Die Feder brauchte kaum Andruck, der Tintenauftrag war satt, der Federdruck breit – ja, er hielt einen regelrecht an zur Grösse. 

Eine weitere Füllfeder, die mich in meiner schriftlichen Anfangszeit faszinierte, war die meines Grossvaters, eine Spezialanfertigung in Gold, und ebenfalls von Parker. Er hatte sie von seinem Vater bekommen, der zu seiner Zeit, in den Zwanzigern, Bukarester Bürgermeister war. Grund genug für einen ansprechenden Füllfederhalter! 

Bestimmt hatte er ihn geschenkt bekommen, zu einem Jubiläum der Stadt, vielleicht auch zu einem eigenen. Auf dem goldenen Füller jedenfalls war ein Datum eingraviert: das der Elektrifizierung der Stadt. Und dann war da auch noch Grossvaters Löschwiege aus Messing, die eine Schrift nicht nur trocknete, sondern ihr auch eine Schwere gab, eine bestimmte Bedeutung. 

Meine Feder aber bedurfte keines Löschpapiers, denn sie schrieb sehr dünn, und die Schrift trocknete deshalb sofort … 

Nach der Wende – ich war damals gerade elf Jahre alt geworden – begann ich, mit einem ganz simplen Kugelschreiber zu schreiben. Dass ich damit meine "Schrift kaputtmachen” würde, wie man mir von unterschiedlicher Seite androhte, trat meines Erachtens nicht ein. Ich mochte es, mit dem Zeigefinger über die Rückseite eines voll beschriebenen Blatts zu streifen, den Abdruck der regelmässigen, leicht geneigten Schrift zu betasten, bevor ich auch diese Seite beschrieb. 

Die meisten Lehrer sassen am Pult und diktierten, während wir fleissig mitschrieben, Seite um Seite. 

Zwei Jahre vor dem Abitur bot uns die Lehrerin für Rumänische Literatur freiwillige Vorbereitungsstunden an. Ganze Samstage sassen wir, an die hundert Schüler, im Singsaal unserer Schule und schrieben auf, was die Lehrerin diktierte. Es waren Geschichten zur Rezeption von Büchern im Laufe der Zeit: Die Reaktionen bei Erscheinen, die haarsträubenden Kommentare in der kommunistischen Diktatur und die tiefgreifenden Besprechungen bei der Wiederentdeckung der Bücher nach der Wende. 

Ich sehe mich noch in diesem grossen Saal, die zugezogenen Vorhänge lichtgetränkt und rot, wie ich emsig schreibe und mein jugendliches Ich sich über das Geschriebene wundert, darüber, dass manche Leute immer wieder eine Linie ziehen können unter die Geschichte, Kausalitäten und eng verwobene Zusammenhänge zu verstehen imstande sind und die Gabe haben, klug und mit letzter Überzeugung zu formulieren. 

Ich hörte und schrieb und schrieb und füllte ganze Hefte mit meiner sorgfältigen Schrift, während die von uns allen verehrte Lehrerin Frau Rosca langsam durch die Reihen schritt und diktierte, aus der Erinnerung zitierte, die Augen auf die Saaldecke gerichtet wie Pythia, die heilige Eingebungen hat. 

Manchmal hielt Frau Rosca kurz inne und suchte nach einem Wort, suchte die Decke ab mit wägendem Blick, drehte an ihren klobigen Fingerringen, damit ihr das Wort wieder einfiele. Und während sie dies tat, schüttelten manche von uns die Schreibhand aus oder rieben den eingebeulten Zeigefinger am Oberschenkel. 

“Wie viele Seiten hast du geschrieben?”, war Frau Roscas erste Frage, wenn ich von einem Schreibwettbewerb kam. Das mag sich aus heutiger Sicht oberflächlich anhören, aber Frau Rosca erkundigte sich so nach dem Schreibfluss, und ob ich meiner Fantasie wirklich freien Lauf gelassen und lustvoll drauflos geschrieben hatte.

Ich sollte unverkrampft sein, die “hölzernen Sprache” sowie die Verknappungen aus der kommunistischen Diktatur links liegen lassen, kluge Sätze zitieren und den Mut haben zu eigenen Interpretationen. 

Ich schrieb die Seiten voll, schrieb und schrieb – und auch meine Schrift wandelte sich: Endlich schlug sie aus, in schwungvollen Ober- und Unterlängen. Wie die von Goethe, sagte ich mir, von Mihai Eminescu, Victor Hugo oder Virginia Woolf. 

“Sie haben eine schöne Schnürlischrift”, sagt man mir heute, wenn ich Bücher signiere. 

Das höre ich gerne. 

Ich messe der Handschrift eine grosse Bedeutung bei. Von meinem ersten Freund nahm ich Abstand, als er mir einen Liebesbrief rein in Versalien schrieb. Dass er “keine eigene Schrift hatte” mutete mir fast schon monströs an. Später wurde er übrigens Chef der rumänischen Post. 

Der Gedanke, dass man heutzutage kaum noch die Handschrift seiner Freunde und Bekannten kennt, sollte uns zu denken geben. Mit der Unkenntnis über die fremde Handschrift bleibt einem vieles über das Wesen und die Befindlichkeit einer Person verborgen. 

Erfährt man jemals mehr über die vielen Bilder, die es von einem jeden von uns gibt? Ich meine, kaum. 

Von jenen Schriftstellern, die ich gerne lese, möchte ich wenn möglich auch die Handschrift kennen. Manuskripte erlauben Einblicke in die Schaffensart des Künstlers. 

Heutzutage schreibt kaum noch jemand einen Roman von Hand. Die meisten führen – so auch ich – einen Notizblock mit sich und schreiben gelegentlich auch längere Widmungen. 

Die Handschrift eines Schriftstellers gibt auch konziser Auskunft über die Person und ihre Befindlichkeit als das fotografische Porträt, in dem das Verletzliche, In-sich-Gekehrte publikumswirksam zur Schau gestellt wird. 

Nehmen wir das Gemälde des berühmten russischen Autors Alexander Puschkin, in dem er sich als erotischer Schöpfer inszenieren lässt. Ein zerzauster Puschkin auf einem Diwan am Fenster, auf Kissen ruhend, mit weit geöffnetem weissen Hemd, sinnierend, wobei er aus dem Fenster schaut, das Ende einer Gänsefeder im Mund. 

Diese, oder zumindest eine sehr ähnliche Gänsefeder wurde ihm von seinem Bewunderer Johann Wolfgang von Goethe zugeschickt – Puschkin, der sich an allem Schönen und Sinnlichen erfreute, liess sich dafür ein rotes Etui aus Saffianleder anfertigen. 

Natürlich mögen Puschkins zeitgenössische Leserinnen und Leser freudig überrascht gewesen sein, dass ein potenter Autor ein ebenso ansprechendes Erscheinungsbild hatte. Aber wer sich Puschkins Manuskripte angeschaut hat, ist dem Autor um einiges nähergekommen als beim Betrachten seines Konterfeis.  

Puschkin schrieb schön und reinlich in seine grossen Arbeitshefte, strich aber auch viel durch, denn er war impulsiv und gleichzeitig anspruchsvoll. Auf den Rändern der Seite zeichnete er. 

Er hatte eine regelmässige, nach rechts geneigte Schrift und schrieb stets mit Gänsefeder oder Bleistift, vor allem aber mit der Gänsefeder. 

Von sich fertigte Puschkin zahlreiche humorige Selbstporträts an – das bekannteste ist jenes mit der Mönchskappe, Auge in Auge mit dem Teufel. Andere Selbstbildnisse in Travestie schildern ihn als Jüngling mit schöner Lockenpracht, als Greis, als Hoftor, als Pferd oder als Dante Alighieri mit dem Lorbeerkranz auf dem Kopf. Die Zeichnungen waren ihm eine Hilfe beim Schreiben. 

Auch ich zeichne. Ich kenne viele Autoren, die zeichnen ...

Eines der Bilder aus Puschkins Manuskript zeigt ihn zusammen mit seiner Figur Eugen Onegin: Zwei Freunde mit Frack und Zylinder an der Newa in Sankt Petersburg. Onegin ist mit dem Rücken zum Betrachter gezeichnet, an der steinernen Brüstung aufgestützt, ein wenig nach hinten geneigt, in lässiger Pose, er schaut auf den Fluss. Puschkin hingegen, dessen Gesicht mit der länglichen Nase frontal zu sehen ist, hat sich gerade umgedreht und macht einen Schritt auf den Freund zu, streckt die Arme nach ihm aus, scheint beherzt auf ihn einzureden. Wer bist Du, mein Freund, was treibt Dich um? Und wieso verhältst Du Dich so, wieso? Es ist ein Ringen des Autors mit seiner Figur, ein Leiden an dessen Fehlern. 

Die Gänsefeder im roten Futteral hält er womöglich in seinem Frack versteckt. Er würde nicht zögern, sie auf der Stelle hervorzuziehen und gewandt auf dem Blatt anzusetzen – um sogleich in seiner unnachahmlichen, bezaubernden Weise die Situation zu beschreiben, die er sich gerade ausgemalt hat. 

Ich sitze am Küchentisch bei einer Tasse Grünen Tees. Ich schreibe mit meinem Füllfederhalter, dem guten alten Parker 75 Cisele Sterling Fountain Pen, und kritzle nun auch das Konterfei von Frau Rosca auf den Rand der Seite. 

Gleich werde ich aufstehen, zum Notebook gehen und mich damit an meinen Schreibtisch setzen, um den Text, den Sie gerade lesen, einzutippen. 

Stellen Sie sich meine Handschrift so lange bitte schwungvoll vor, mit grossen Ober- und Unterlängen. 

Und ich stelle mir Sie, werte Leserin, werter Leser, vor, wie sie mir über die Schulter schauen.