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von Eleonore Frey

Schreiben

Das Kind zieht mit dem Zeigefinger einen Kreis auf die beschlagene Scheibe; sorgfältig darauf achtend, dass das Ende den Anfang finde: O, du schreibst ja! sagt die Mama. Ein O! Das Kind, unsicher ob das ein Tadel sei oder ein Lob, läuft weg und übt sich anderswo. Die Mutter, teils stolz darauf, dass ihr Kind in seinem zarten Alter bereits schreiben kann, teils traurig, weil mit dem Schreibenlernen auch schon das Erwachsensein beginnt, bemerkt nicht, dass das, was ihr Kind tut, noch lange kein Schreiben ist. Sondern, was offensichtlich ist, wenn man das Kind noch gestern in ständig sich steigernder Geschwindigkeit mit einer Kreide einen Kreis über den andern hat malen sehen, ein hier zum ersten Mal gezielt in Schranken gewiesener Bewegungsdrang, der im Unterschied zu anderen energischen Betätigungen vorzeigbare Spuren hinterlässt: Weisse Kringel auf dem Küchentisch, einer über dem andern auf dem Schiefer, der einen vorzüglichen Hintergrund abgibt für die schwungvoll hingeworfenen, immer wieder anders in sich selbst zurückkehrenden Schlenker, in denen sich das Kind bewährt und austobt. 

Dem ersten, sorgfältig geschlossenen Kreis folgen weitere. Einer neben dem andern: Zwei Striche am richtigen Ort machen den einen zum Baum. Ein anderer wird – Punkt, Punkt, Komma, Strich – zum Gesicht. Das Kind verfertigt jetzt Bilder, die etwas meinen; die sagen, was sie sind. So, mit Skizzen, die jedem erkennbar waren als Vogel, als Berg oder als Mensch, fing bei den Chinesen das Schreiben an. Im häufigeren Gebrauch wurden die Zeichnungen zu Zeichen vereinfacht. Mehrere einander zugeordnete Zeichen drückten aus, was sich mit einem einzigen Zeichen explizit nicht sagen liess: Den Begriff Schriftzeichen zum Beispiel. Aber auch Befindlichkeiten wie das Glück. Oder die Gabe der Weisheit: Unanschauliches, das sich der direkten Abbildung entzog. Nur selten waren in den Zeichen noch die ursprünglichen Bilder zu erkennen. In der Abstraktion wurden sie auf ein komplexes Konglomerat von Strichen reduziert. Das Schreiben hatte sich vom abbildenden Zeichnen abgesetzt und wurde, wo es nicht lediglich praktischen Zwecken diente, zu einer Kunst, die ihren Eigenwert hatte: Zur Kalligraphie, wie sie sich auch bei anderen Völkern, den Arabern zum Beispiel, zur eigenständigen Kultur entwickelte.

Auch wir pflegen das Schreiben als Kunst. Die eigentliche Kalligraphie kommt bei gewissen Dokumenten, Urkunden oder auch als freie Übung zum Einsatz. Immer seltener freilich. Und oft auch, photomechanisch reproduziert,  in gedruckter Form. So gibt eines meiner Kochbücher, wenn man hinten zu lesen anfängt, die Rezepte in handgeschriebenem Arabisch und, in der anderen Richtung, ebenfalls in einer persönlich durchgestalteten Handschrift, auf deutsch. Als hätte ein Freund die Texte eigens für mich abgeschrieben und übersetzt. Abgesehen von solchen Liebhaberobjekten beschränkt sich aber die Handschrift mehr und mehr auf einen privaten Bereich: Notizen, Tagebücher werden von Hand geschrieben. Briefe, sofern sie persönlicher Natur sind und – so möchte man es sich gern denken - immer noch die Manuskripte der Dichter. Nicht unbedingt kalligraphisch mustergültig. Auch nicht in jedem Fall leserlich. Aber doch als ein unmittelbar einmaliger Ausdruck der Person, die das Schriftstück verantwortet. In ihrer unverwechselbaren Eigenart gibt die Handschrift Gewähr für Echtheit. So sehr, dass bei gewissen Dokumenten – beim Testament zum Beispiel – der Text als ganzes von Hand geschrieben werden muss. In den meisten Fällen genügt zur Garantie der Authentizität die Unterschrift. Da kommt oft in der Gestaltung kühnster Schnörkel eine Art von Kalligraphie zum Zug, die mit der in einem Namen vorgegebenen Buchstabenfolge nicht die geringste Ähnlichkeit hat. Man kann eine derart hochstilisierte Signatur nicht lesen, sondern nur wiedererkennen als die Manifestation eines Egos, das sich in seinem dynamischen Überschwang oft nicht nur als einzig-, sondern auch als grossartig darstellt.

In der Pflege der Handschrift steht die Person im Zentrum, die sich in ihr zugleich konform und eigenartig den andern mitteilt. Es ist eine persönliche Kultur, die sich auch auf die Auswahl eines angemessenen Schreibgeräts, eines passenden Papiers ausdehnt; eine Übung also, die sowohl zweckdienlich als auch ästhetisch befriedigend sein soll. In der Schule war freilich das Persönliche weitgehend ausgeklammert. Der Lehrer wollte regelgerechte und regelmässig aufs Blatt verteilte Zeichen sehen. Gegen Schieflage halfen Linien und später, auch in gepflegten Schreibblöcken, die sogenannten Eselsleitern. Dass die Schriftstücke, die ein Schulkind zu Übungszwecken zu verfassen hatte, reinlich und lesbar sein mussten, verstand sich von selbst. In der Zeit der Tintenkleckse wirkte sich das Schönschreiben im Schulzeugnis auch auf die Benotung der Ordnung und Reinlichkeit aus. Nicht zu einer persönlichen Ausdrucksform soll das Kind beim Schreibenlernen angehalten werden, sondern es soll sich mit seinem Schreiben in den Dienst der Ordnung stellen, der das Schreiben in seinem offiziellen Gebrauch weitgehend verpflichtet ist. Es wird noch eine Weile dauern, bis unser nun schon bald schreibbeflissenes Kind Interesse an solchen Dingen zeigt. Da man Schriftstellern mindestens bis zu einem gewissen Grad ein Recht auf Kindlichkeit zugesteht, erlaube ich mir jetzt, vom konform regelrechten Schreiben abzusehen und mich auf Nebengeleise zu begeben. Womit kann man schreiben? kann man sich da fragen. Und dann auch gleich: Worauf?

Als ich viel zu früh Schillers Räuber las, war ich sehr beeindruckt von einer „schröcklichen Botschaft“, die der gute Sohn Karl von Moor hinterlassen hatte; „... mit erstarrender Hand... mit dem warmen Blut seines Herzens“ auf sein Schwert geschrieben: Von „seiner Hand“ stand da der Name Amalia, so dass die Echtheit der bei aller Einfachheit doch leider nicht eindeutigen Botschaft unzweifelhaft beglaubigt war. Auf das im metaphorischen Sinn gemeinte Herzblut, mit dem gewisse Dichter nach einem leider immer noch nicht ganz ausgestorbenen Sprachgebrauch ihre Texte geschrieben haben sollen, sei hier mit einem diskreten Naserümpfen hingewiesen. Mit tatsächlichem Blut geschriebene Botschaften wie „Helft mir! Hier kam ich vorbei! Hier lauert Gefahr“ geistern bis zum heutigen Tag durch Horrorstorys und Gruselfilme. Mindestens bis es wegen der Astronautenanzüge der Filmhelden mit dem offensichtlichen Blutvergiessen ein Ende hatte. Mit Blut schrieb oder zeichnete, wenn ich mich recht erinnere, auch Beuys, obwohl er durchaus auch andere Mittel zur Verfügung gehabt hätte. Mit einem Farbstoff also, der, auch wenn er sich beim Eintrocknen rasch ins Bräunliche verfärbte, doch  immer noch die Kraft hatte, im Betrachter Abscheu, Ekel oder auch so etwas wie verbotene Lust zu wecken. Die Zeit, in der ich mich vor der roten Tinte der Lehrpersonen zu fürchten hatte, ist vorbei. Rot wie Blut und somit bedrohlich sind oft auch die Lippenstifte, die man zu  Schreibzwecken missbraucht. Bezeichnungen wie Stiletto Red oder Venus heavenly sind – so oder so – eine Warnung  vor Gefahr.

Während es bei der Wahl der Tinte oft auf mehr oder weniger sanfte Art um Emotionen geht, beeinflusst die Qualität der Unterlage unter anderem das Überdauern des Schriftstücks. Eine auf eine Serviette gekritzelte Notiz wird unbedenklich weggeworfen, während man einem Entwurf auf handgeschöpftem Büttenpapier mit einem gewissen Respekt begegnet. Ein Respekt, der freilich nichts anderem als dem Ladenpreis des Materials gilt. Der gedankliche Gehalt der je nach dem als Fetzen oder als Kostbarkeit präsentierten Zeilen spielt dabei vorerst keine Rolle. Mehr interessieren mich die Fälle, in denen das Überdauern der Schrift nicht vom materiellen Wert, sondern von der Beschaffenheit des Materials abhängt, das ihr als Unterlage dient. Was in Stein gemeisselt ist, widersteht der Witterung länger, als was Liebende in Rinden ritzen. Was Kinder in Schulbänke einschneiden, hält länger als was ihre älteren Kollegen auf Mauern oder S-Bahnzüge sprayen. Pergament ist dauerhafter als Papier. Die wunderbar illuminierten, in edelsteinbesetzte Einbände gefassten Bibeln des Mittelalters sind so gut wie möglich, aber dennoch nicht für die Ewigkeit gegen den Zerfall gesichert. Dass die heilige Schrift bis zum heutigen Tag der Nachwelt erhalten worden ist, liegt aber doch an nichts anderem als an der Tradition, die diese Texte in immer wieder neuen Ausgaben, Übersetzungen, Deutungen lebendig erhalten hat bis zum heutigen Tag. An der Überlieferung von einer Generation zu andern liegt es auch, dass die Werke der Dichter länger erhalten bleiben als das Papier, auf das sie gedruckt sind. Ein Glück, mit dem Keats nicht gerechnet zu haben scheint. Wenn auf seinem Grab zu lesen steht, dass hier einer liege, dessen Namen auf Wasser geschrieben sei, sagt das fürs erste nichts anderes, als dass dieser Name, kaum genannt, auch schon spurlos aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden sei. Was man mit einem Stecken in den Sand oder in den Schnee geschrieben hat, bleibt immerhin lesbar, solange der Wind es will, solange keine Schmelze eintritt. Was man dagegen dem Wasser anvertraut, zerrinnt, bevor noch die Botschaft erkennbar geworden ist, die man ihm mitgeben wollte.

 

Dass Keats sich in Hinsicht auf seinen Nachruhm geirrt hat, ist offensichtlich. Aber nur, wenn wir nicht mit Ewigkeiten, sondern mit Jahrhunderten rechnen. Was sein Mass war, wissen wir nicht. Nun kann man aber den Spruch auch anders lesen. Als wäre er ein Gedicht. Was ins Wasser geschrieben wird, verschwindet zwar, bevor es noch Gestalt angenommen hat. Aber es macht dafür, wenn auch ins Unbegrenzte zerflossen, dessen wenn nicht ewigen, so doch unaufhörlichen Kreislauf mit. Solange die Erde um die Sonne kreist, wird es auf seinem Weg Quelle oder Welle. Es löscht Feuer, nährt Tiere, Menschen und Pflanzen, steigt in hohe Bäume auf, verdunstet, wird Wolke und fällt als Regen wieder auf die Erde zurück. Kaum ein Ort, wo es nicht hinkommt. Der dem Wasser eingeschriebene Name ist, wenn auch als Schriftzug getilgt, in allem enthalten, was Leben hat; auch dann noch, wenn die Inschrift auf Keats Grabstein längst verwittert ist. In dieser seiner ungreifbaren Präsenz entspricht es dem, was im Schreiben der Dichter unsichtbar zwischen den Zeilen steht. Anders als die unsichtbare Tinte, die in kindlicher Magie oder in Zeiten vorelektronischer Verschwörungen eine Rolle spielt oder gespielt hat, lässt es sich nicht ans Tageslicht bringen, wenn man das Papier über eine Flamme hält. Es erschliesst sich – nach wie vor unsichtbar – nur einer Lektüre, die dem sogenannt toten Buchstaben eines gedruckten Texts all das abgewinnen kann, was er an lebendigem Atem verloren hat: Nicht indem sie es imaginierend ergänzt, sondern in dem sie es im Schriftbild und im Wortlaut aufspürt.

 

Nicht die Tinte, nicht das Papier, nicht der Computer im Gegensatz zur Handschrift oder die Kreide im Gegensatz zur Feder macht demnach die Qualität der Texte aus, die  länger leben als die Hand, die sie zu Papier gebracht oder sonst irgendwie schriftlich festgehalten hat. Was die Handschrift an persönlicher Eigenart zum Ausdruck bringt, leisten sie abgesehen von ihr; weit über das einmalig Persönliche hinaus. Ihr Wortlaut erklingt nicht nur in dieser oder jener Lesung, sondern er ist ein für alle Mal dem Text eingeschrieben als eine zwar unhörbare, dafür aber um so reinere Musik. Wie das geschieht, ist ein Geheimnis, in das man immer wieder neu, immer wieder anders einen kurzen Einblick gewinnen kann. Ein für alle Mal auf die Spur kommen kann man ihm nicht. Auf Joseph Brodskys Grab auf der Friedhofsinsel San Michele haben eine ganze Menge von Besuchern ihren Kugelschreiber, ihren Bleistift niedergelegt. Damit der tote Dichter in seinem Grab weiterschreiben kann? Damit sich das, was in seinen Versen steht, irgendwie ohne ihn weiterschreiben möge? Die guten Wünsche sind müssig, möchte man sagen, wenn sich nicht gleich der Einspruch melden würde, dass sie – irgendwie – doch in Erfüllung gehen. Das Schreiben erfüllt nicht nur seinen praktischen Zweck, sondern es geht über ihn hinaus in einen Bereich, der sich der Kontrolle entzieht. Geschriebenes dauert nicht nur solange es in seiner materiellen Gestalt erhalten bleibt, sondern solange es im Gedächtnis der Menschen nachklingt.