montblanc starwalker

von Erica Pedretti

 

MUH, die KUH, und so weiter usw.

Eine grosse Kuh, farbig, und die in deutlichen Grossbuchstaben darunter gedruckten Silben und Wörter im schönen Lesebuch. Ich konnte es kaum erwarten, endlich Schreiben zu lernen, versuchte es immer wieder allein, und als ich in die Schule kam, wunderte ich mich, wie widerwillig die meisten Kinder dasassen, ärgerlich, wie langsam wir vorankamen.

Das Buch, unser Lesebuch der ersten Klasse für die deutschsprachige Volksschule der Tschechoslowakei, hat mir Jahrzehnte später ein Germanistikprofessor in Prag gezeigt, er war gleich alt wie ich, hatte wie ich damit lesen und schreiben gelernt, und hatte es kürzlich antiquarisch wiedergefunden.

Kaum hatte man Lesen gelernt, kam, nach den Blockbuchstaben, die Schreibschrift dran, Kurrent.

Und damit fing das Lesen und Schreiben erst richtig an, was bedeutete, dass nach all den von Grossmüttern und Tanten liebevoll erzählten Märchen und Geschichten ich endlich anfangen konnte, selbst lesen zu lernen, von A bis Z. Und alsbald auch selber zu schreiben. Kaum waren wir in der Schule beim Z angelangt, fing ich zu Hause an, heimlich eine Geschichte zu schreiben. Warum heimlich? Die Protagonistin, ein sechsjähriges Kind, also etwa so alt wie ich, lebte mit seinen lieben, allzu besorgten Eltern in einem kleinen Ort, wo es schon alles kannte, so wie es fast jedermann im Ort kannte, so wie auch die meisten Leute das Kind kannten. Das schien dem Kind ziemlich langweilig. Bis eines kalten, trübseligen Tages seine Eltern starben. Da packte das Kind schnell seine liebsten Sachen in einen kleinen Rucksack, zog sich die hohen, festen Schuhe an und machte sich auf den Weg zu den Abenteuern, in Richtung Norden. (Warum in den Norden? Was oder wer hat sie auf diese Richtung gebracht?) Das Kind war also von zu Hause, wo es allzu gut behütet worden war, weggelaufen und wanderte jetzt meist auf Nebenstrassen, um nicht entdeckt zu werden, auf steinigen Wegen und wenn immer möglich durch dichten Wald, Tag für Tag ein Stück weit weiter. Im Wald gab es Beeren, es war Herbst, in den Gärten fand es reife Äpfel und Birnen, und hie und da gab eine liebe Alte ihm ein Butterbrot. Als die Geschichte so weit gediehen war, und bevor man sich überlegen musste, wie man ein einsames Kind durch einen kalten Winter bringen würde, las ich alles meiner jüngeren Schwester vor. Die war von jeher die Vernünftigere von uns beiden und ist später Germanistin geworden. Sie stellte als Erstes fest, dass ich die Eltern umgebracht hatte. Das war nicht abzustreiten:

Aber das waren doch nicht unsere Eltern! Und sie waren auch schon alt! Und wenn das unsere Mutter liest? Wir können das Heft gut verstecken. Ja, aber wo? Wir lebten in einem aufgeräumten Haushalt: ordentliche Kästen, ordentliche Schubladen, die Matratzen wurden täglich gewendet, nirgends fand sich ein sicheres Versteck. Es blieb nichts anderes übrig, als das Manuskript zu verbrennen, was wir alsbald in einer von Gestrüpp überwachsenen Ecke des Gartens feierlich taten.

Danach war es für eine Weile mit dem Schreiben vorbei: Es gab keine harmlosen Themen, alles, was ich hätte schreiben wollen, konnte jemanden, womöglich jemand mir Lieben, verletzen. So blieben nur die Schulaufsätze. Wir schrieben übrigens Kurrent, zumindest Deutsch haben wir kurrent schreiben gelernt, später dann Englisch und Latein in Lateinschrift, wie das genannt wurde. Und als wir nach dem Krieg in die Schweiz kamen, wo kaum jemand Kurrent entziffern konnte, war die Umstellung gar nicht so leicht, es dauerte eine Weile, sich die alte Schrift abzugewöhnen.

Jede Zeit hat ihre eigene Schrift, das lernte ich also schon, bevor ich in die Kunstgewerbeschule kam, die heute Schule für Gestaltung heisst. «Schriftenschreiben» war dort obligatorisch, eins von verschiedenen Unterrichtsfächern.

Der Lehrer setzte sich auf meinen Stuhl, er nahm mir die Feder aus der Hand, tunkte sie in das Fläschchen mit schwarzer Tinte oder Tusche und setzte sie sanft aufs Papier: Er habe heute früh vor sich auf dem Trottoir eine Frau gesehen, mit Schwung zog er einen Bogen, während er weitererzählte: «eine rundliche Frau», er zog die Feder zu einem perfekten Kreis: «eine runde, eher schwere Person, die auf sehr hohen», er setzte am O rechts unten zu einem kurzen, schräg geschwungenen, einem hohen Schuhabsatz ähnlichen Strich an: «die auf hohen, zierlichen Absätzen leichtfüssig elegant vor mir herlief». Auf dem Papier stand ein perfektes, wunderschönes Q.

Es war ein Glück, Alfred Willimann als Lehrer zu haben, er war ein grosser Kenner und Liebhaber von Schriften, ein wahrer Schriftkünstler und konnte uns, seine Schüler, zu etwas begeistern, mit dem wir uns, ohne ihn, kaum so intensiv beschäftigt hätten.

Die Entwicklung der Schrift, von den Runen der Vorzeit zu den griechischen Steingravuren, von der griechischen Lapidarschrift vom 8. bis 5. Jahrhundert vor Christus bis heute wurde zum anschaulichen Form- und daneben auch zum Geschichtsunterricht.

Willimann führte uns die römische Lapidarschrift aus dem 2. Jahrhundert vor Chr. vor und wir schrieben Rustica und Kapitalis Quadrata des 1. bis 4. Jahrhunderts., versuchten die Majuskel- und Minuskel-Kursive des 1. bis 2. oder eine griechische Majuskel-Kurrent vom 2. Jahrhundert so gut wie möglich aufs Papier zu bekommen. Im Verlauf von vier Jahren übten wir uns an römischer Quadrata und Rustika, schrieben Unzialen, kamen von den bewegten Merowingern zu den strengeren Karolingern, zu gedrängten gotischen Kursiven und schliesslich zu den humanistischen Schriften und den Gravuren des 17. und 18. Jahrhunderts.

Und entwickelten auf diese Art ein Gefühl für Proportionen und lernten auch die verschiedensten mal stolzen, mal flüchtigen, dann wieder dekadenten Merkmale kennen, die verschiedensten historisch bedingten schriftlichen Lebenszeichen.

Über die Jahre, vielleicht während des Schreibens, hatte sich Willimann etwas Besonderes ausgedacht, eine ideale Arbeitsgemeinschaft, die er uns hie und da aufs schönste ausmalte: In einem verlassenen Karthäuserkloster bezöge jeder von uns ein kleines Häuschen, in dem man tagsüber konzentriert seiner Arbeit nachginge, von keinerlei Ablenkung gestört, das Essen würde durch ein Fensterchen gereicht, in den Arbeitspausen könnte man einen kleinen Garten sorgfältig pflegen, und abends kämen wir alle zusammen, um nach dem gemeinsamen Essen unsere Arbeiten zu betrachten und zu besprechen.

Später, ich hatte die Ausbildung abgeschlossen, schrieb er mir in seiner kleinen, wunderschönen Schrift einen freundlichen und ausführlichen Brief in die USA, wohin das Schicksal meine Familie und mich verbannt hatte, beschrieb mir zwei Ausstellungen und legte auch den von ihm gestalteten Ausstellungskatalog der Futuristen bei. Und mir war, als wäre ich nach Zürich zurückgekommen.

Das wurde überraschenderweise zwei lange Jahre später Wirklichkeit. Einer meiner ersten Wege in Zürich ging zur Kunstgewerbeschule, wo Willimann, gar nicht erstaunt, meinte, er habe immer gewusst (was ich nicht geahnt hatte), dass ich zurückkommen und dass seine Schüler Gian und ich heiraten würden.

Jedes Mal wenn er dann nach Celerina kam (wo wir wohnten), um dort seinen Sohn im Asthma-Kinderheim zu besuchen, kam Willimann auch zu uns, manchmal mit Lineli, seiner Frau. Wir assen miteinander, er schaute sich unsere Arbeiten sehr genau an und beriet uns, entwarf auch ein Namensschild für unser Atelier. Und nicht nur bei den Gravuren, auch nicht nur bei den Schriften, die wider Erwarten jahrelang mein Haupt-Brotverdienst wurden, kam mir immer wieder vieles von dem, was ich von ihm gelernt hatte, in den Sinn.

Inzwischen hab ich nach und nach das Gravieren und Schriftenschreiben mit Geschichten-, mit Bücherschreiben ersetzt. Und denke oft an Alfred Willimanns Traum vom Karthäuserkloster. Wie schön es wäre, sich in die Abgeschiedenheit zurückzuziehen und ihm dann, würde er noch leben, das Resultat des ruhigen Schreibens, ein Buch ums andere zu bringen.