montblanc starwalker

von Zsuanna Gahse

 

Letzten Freitag lag die Tante wieder mitten auf dem Esszimmertisch, wie freitags fast immer, denn offensichtlich bereitet es ihr eine unwiderstehliche Freude, diesen Tisch in Besitz zu nehmen. Sie liegt dort nicht leibhaftig, das nicht, aber neben ihren immergleichen Postkarten, die sie uns seit Jahren schickt, verblassen alle übrigen Briefsendungen, und als sie vor einigen Wochen bei uns zu Besuch war und gleichzeitig eine Karte von ihr ankam, sagte sie tatsächlich und von sich aus, dass sie nun auf dem Tisch liege.

Ihre Karten erkennt man schon aus der Ferne, schon wenn man das Zimmer betritt. Die eng geführten, nach rechts geneigten Buchstaben schreibt sie mit einem hellblauen Stift, und ich muss gleich hinzufügen, dass ich nichts gegen rechts geneigte Schriften habe, und enge Zeilen gefallen mir manchmal mindestens so gut wie die grossen, freien Abstände auf einem Briefbogen, wobei grosse Abstände auch nicht grundsätzlich schön sein müssen. Mein Befremden den Freitagskarten gegenüber hängt nicht mit solchen Fragen zusammen.

Wenn zum Beispiel ein Brief von einem Freund aus Bern ins Haus flattert, sehe ich seine kleinen, runden, fliegend zusammengesetzten o-s und u-s, und da ragt weder der Hals von einem h angeberisch in die Höhe, noch gibt es ein grosses Aufsehen mit den Beinen eines g; ausserdem sehe ich hinter den hingeworfenen Zeilen auch die kluge Hand. Diese Briefe lese ich meist zwei- oder dreimal, und ich freue mich über die einzelnen Sätze, sie sind erwünscht, die Sätze der Tante aber nicht, auch wenn das ungerecht ist, denn im Grunde sollte ich für jeden handgeschriebenen Gruss, der zwischen den Drucksachen und der Geschäftspost liegt, dankbar sein. Das bin ich auch, fast immer. Und immer habe ich den Eindruck, mit der Schrift jemanden persönlich vor mir zu haben, was ich wörtlich meine, nicht etwa symbolisch. Mit der Schrift, mit der Handbewegung, die in der Schrift steckt, sehe ich ein Stück weit wirklich eine Person vor mir.

In einer grossen Schachtel horte ich die Briefe eines alten Herren, der noch jetzt, mit weit über achtzig, auf Weltreisen geht und mir von den Azoren oder aus Kairo seine altertümlich krakeligen, kräftigen Buchstaben schickt. Sobald ich die Schachtel öffne, steht der ganze Mann vor mir, dieser ewig neugierige Mensch, der sicher bis zum letzten Atemzug so neugierig bleiben wird, und obwohl ich weder seine noch andere Schriften deuten kann, geniesse ich den Anblick der Wörter und Buchstabenreihen. Ohne zu deuten, verstehe ich dabei sogar etwas, und in diesem Sinn habe ich ein Stück weit die Person vor mir.

Eine Schrift zu betrachten, ist in etwa so, wie jemandem beim Gehen oder beim Essen zuzuschauen. Wie beim Essen, Trinken, Gehen und Tanzen weiss der Beobachter schnell, mit wem er nicht viel Zeit oder recht viel Zeit verbringen möchte. Oder vielleicht ist diese Aussage übertrieben, weil solche unmittelbaren Gefühle erst dann entstehen, wenn eine Schrift sozusagen nachvollziehbar ist, und das ist sie nur, wenn sie aus einer vertrauten, bekannten Umgebung stammt. Den Brief eines New Yorkers wird nur der richtig einschätzen und geniessen (oder nicht geniessen), der mehrere Schriften aus den United States kennt, und mit südamerikanischen oder italienischen Schriftzügen ist es nicht anders. Je nach Land lernt man anfangs unterschiedliche Buchstaben, ausserdem kommen diese Buchstaben je nach Sprache in unterschiedlichen Wortzusammenhängen vor. Das allein sagt schon viel. Und allmählich entwickelt jeder für sich eine eigene Art, eine von der Vorschrift (wirklich Vor-Schrift) abweichende Art der Zusammenfügung von einzelnen Zeichen. Unter diesen Umständen ist es einfacher, eine deutsche, schweizerische, österreichische Handschrift spontan ansprechend zu finden als eine fremde Schrift oder die alten Schreibweisen der Grossväter, Urgrossväter oder die der alten grossen Dichter.

Allerdings kann man auch eine alte oder eine fremde Schrift lang, lang betrachten, und mit der Zeit ist die ursprüngliche Handbewegung dann doch nachvollziehbar.

Um solche offensichtlichen Bewegungen hervorzuheben, wäre es schön, einmal eine Geschichte anhand von Handschriften zu erzählen: Da kullert die unbekümmerte weibliche Hauptperson mit ihren grossen runden Lettern ins Restaurant und wirft sich auf einen Stuhl. Ach, sagt sie, mit einem unbefangen grossen A geschrieben, und freut sich auf die Vorspeise. Gewichtsprobleme hat sie nicht, sie schaut auch gerne in den Spiegel, sonst hätte sie wohl keine Lust auf die riesig gerundeten Zeichen, die sie aneinanderreiht. Sie zeichnet eher, als dass sie schreibt, und sie zeichnet ihre Sätze nicht schnell, sie isst auch nicht schnell, sondern genüsslich, und zwischendurch schlägt sie die Beine übereinander. Bald tritt dann ein zweites Schriftbild auf und nähert sich ihrem Tisch. In dieser Schrift gibt es viele flache, gleichförmige Striche, das U ist vom V, vom W und M und N praktisch nicht zu unterscheiden, ab und zu wird die ebenmässige Wellenlinie durch eine Oberlänge oder eine Unterlänge unterbrochen, zu erkennen ist dann ein T oder ein G, was durchaus weiterhilft, will man aber dem Sinn dieser Sätze näherkommen, ist das Rätseln die wichtigste Aufgabe. Die Person, die hinter den gleichmässigen Strichen steckt, ist ausgerechnet der Chef der unbefangenen Dame. Was soll man nun sagen, und was soll man von ihm halten? Allerdings wüsste man von ihm, wenn er leibhaftig aufgetreten wäre, auch nicht viel mehr. Man könnte ihm ins Gesicht schauen, er würde sich leicht vorbeugen, die Hände verschränken und aufmerksam zuhören. Was wäre darüber zu sagen? Dass er sich vorbeugt, dass er wohl nachdenkt, während er zuhört, und vielleicht denkt er so schnell wie seine Buchstaben fliehen, die er im Grunde für sich selbst notiert, denn er selbst kann sie gut entziffern.

Später treffen im Restaurant noch weitere Schriftzüge ein, der eine ist hübsch gekritzelt, der andere absichtlich verhuscht, als würde er sich einen langen Schal zweifach (also modisch) um den Hals schlagen und dabei tun, als hätte er (oder sie) solche Schals schon seit immer auf diese Weise getragen, nonchalant und selbstvergessen, nicht auf die Mode achtend, in Wirklichkeit aber modebesessen, und das ist auch der Schrift anzusehen. Allerdings verlangt niemand nach grafologischen Gutachten für die kleine Tischgesellschaft, bewertet wird niemand, es geht nur um das Vergnügen der gemeinsamen schriftlichen Anwesenheit.

Handschriften zu betrachten, zu besitzen und zu zeigen, ist ein grosses Vergnügen. Am schönsten wirken die mit Tinte geschriebenen getrockneten Spuren! Mit Schneckenspuren würde ich sie nicht vergleichen, das wäre symbolisch, was ich möglichst vermeiden möchte, zudem hinterlassen Schnecken eine körpereigene Feuchtigkeit, was man von der Tinte nicht behaupten kann, und auch die Grafitspuren der Bleistifte haben mit Körpersäften nichts zu tun. Dass man es aber mit tatsächlichen Spuren zu tun hat, liegt auf der Hand beziehungsweise an der Hand, denn es ist die schreibende Hand, die die Spuren hinterlässt, und mit dieser Hand verbunden sind der Handbesitzer und all seine Eigenschaften.

Handschriften und sogar die Kopien von Handschriften, die Faksimiles, sind Schätze, die nun immer höher im Kurs stehen. Noch bringen solche Trophäen (beispielsweise Notizen oder Briefe von Thomas Bernhard, von Friedrich Dürrenmatt oder Ingeborg Bachmann) längst nicht die Summen ein, die manche Arbeiten glücklicher junger Künstler bei Auktionen erzielen. Und natürlich stehen die Schriften von den grossen Schriftstellern vergangener Zeiten höher im Kurs, aber der Wert, auch der Verkaufswert der jüngsten Hinterlassenschaften ist deutlich gestiegen. Private Sammler von Signaturen gibt es schon lange, jetzt interessieren sie sich allerdings mehr und mehr für ganze Sätze der Autoren, wobei solche handgeschriebenen Sätze wirklich mehr erzählen als nur eine Unterschrift. Passend zu dieser Veränderung, hört man immer häufiger die Frage, ob ein Schriftsteller (eine Schriftstellerin) mit der Hand oder mit dem Computer schreibe.

Vor wenigen Jahrhunderten konnte längst nicht jeder schreiben, mit der Schulpflicht hat sich die Situation verändert, und jeder schrieb, wie er konnte: froh, verschämt, übertrieben schön, schnell, klecksend oder harzig. Dann kam die Schreibmaschine auf, und viele begannen, mit zwei oder mit allen zehn Fingern auf diesen Maschinen loszuhämmern – so konnten die Schreibenden ihren schnellen Gedanken schnell und leserlich folgen (wollte jemand heute auf den alten mechanischen Geräten seine Ideen fixieren, hätte er am Ende eher eine Sehnenscheidenentzündung als einen guten Text; für diese alten Ungetüme wäre unsere Muskulatur heute zu schwach). Und heute kann beim Schreiben jeder halb zurückgelehnt zum Fenster hinausschauen oder geradewegs in die eigenen Gedanken hinein und dabei Texte mühelos in den Computer tippen (falls die Finger die Tastatur blind beherrschen); nachher kann er die Fehler, die er erkennt, verbessern. (Die Fehler muss er erkennen können, das ist entscheidend.) Was jemand im Computer streicht und neu einsetzt, ist später bekanntlich nicht mehr zu sehen oder nur anhand von besonderen Suchprogrammen aufzuspüren. Immerhin sind aber auch diese Manuskripte handgeschriebene, nämlich mit den Fingern gefertigte Schriften, und alle Arten von literarischen Manuskripten werden heute von Literaturarchiven gesammelt. Seit den letzten fünfzig, sechzig Jahren gibt es mehr und mehr solcher Archive, wo die Schätze zwischendurch sogar ausgestellt werden, da es, wie gesagt, ein Vergnügen ist, Handschriften zu zeigen und sie zu betrachten.

Erst konnte also nicht jeder schreiben, dann konnten es im Zusammenhang mit der Schulpflicht praktisch alle, dann kamen die mechanischen und elektrischen Schreibmaschinen auf, und als diese Maschinen die Handschrift ein wenig zu verdrängen begannen, horchten die Denker (Philosophen) auf, und in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts begannen sie, über die Schrift zu schreiben.

Einer dieser gewitzten und witzigen Denker ist Vilem Flusser, der im Laufe seines Lebens in fünf Sprachen zu Hause war und sein Werk in drei Sprachen verfasste. 1991 starb er siebzigjährig bei einem Verkehrsunfall, vier Jahre zuvor war «Die Schrift» erschienen, ein Buch, das er auf Deutsch verfasst hatte und in dem er über Inschriften, Aufschriften, Überschriften, Buchstaben, Vorschriften, über die gesprochene Sprache und Unterschriften nachdachte (die obige Aufzählung der Themen entspricht seinen Kapitelüberschriften). Das Wort Buchstaben nimmt Flusser wortwörtlich, sie bedeuten bei ihm Literatur – recht hat er, litterae sind nichts als Buchstaben – und in diesem Zusammenhang sagt er: «Weil Buchstaben Zeichen für gesprochene Laute sind, ist ein alphabetischer Text eine Partitur einer akustischen Aussage: Er macht Laute ersichtlich.» Dementsprechend folgt man beim Lesen einer Tonspur, und wenn alles gut geht, nimmt man die Tonspur im eigenen Kopf als Laute wahr, als eine aussagefähige Tonfolge.

Einfacher gesagt, denkt jemand, wenn er zu schreiben beginnt, an Wörter und Sätze, hört diese Sätze im eigenen Kopf, notiert sie (nicht gerade in Noten, sondern in Buchstabenfolgen), und der Leser hört hernach im eigenen Kopf, was der Schreibende vorher ebenfalls gehört hat, was jener also mitteilen wollte.

Damit ist die Schrift auch eine Abbildung von Sprachmusik; die Schrift kann in Töne zurückverwandelt werden, zudem zeigt sie mit ihrem Aussehen Eigenarten des Schreibenden, zumindest zeigt sie die Handbewegung, sie zeugt von einer Handbewegung! Damit übertrifft sie   beinahe die Fähigkeiten der Fotografie (ausser, die Fotografie stellt eine Handschrift dar), denn wann sieht man in einem Bild Bewegungen und Töne zugleich?

Schön ist auch, was Roland Barthes über die Schriftzüge (eines bestimmten Künstlers, über Cy Twombly nämlich) schreibt: «Sie sind Spuren einer Trägheit, also einer extremen Eleganz; als bliebe von dem Schreiben, einer sehr erotischen Betätigung, nur die Ermattung nach der Liebe.»

In den vielfältigen Schriften über die Schrift ist immer wieder von Zeichen die Rede oder zum Beispiel von Ziffern. Vilem Flusser betont, dass Ziffern, die algebraischen Darstellungen, keine Tonspuren sind, eher vergegenwärtigen sie ein Bild der rechnerischen Aussage.

So könnte man von Tonspuren und Bildern ewig weitererzählen, dann auf die hebräischen Zeichen einlenken, von denen unsere Tonspur-Buchstaben abstammen. Im Gegensatz zu ihnen müsste man dann die chinesischen Zeichen herbeiholen, die wiederum eher Bilder beinhalten. Was aber allen geschriebenen Zeichen gemeinsam ist, ist die Vergegenwärtigung von etwas. In den Zeichen lauert eine Gegenwart, die beim Lesen geweckt wird.

Bei der Tante gibt es gerade mit dieser Gegenwart Unstimmigkeiten. Erstens will sie auf dem Tisch zwischen der übrigen Post auffallen und gegenwärtig sein, zweitens steht auf ihren Postkarten Woche für Woche derselbe Text: «X ist krank, Y ist fleissig, die Sonne scheint, ich selbst komme zurecht.» Oder: «X ist fleissig, Y ist krank, es regnet, ich selbst komme zurecht.» Das heisst: Sie schreibt mir ständig, ohne etwas zu sagen, tut aber so, als würde sie etwas sagen. Solche Nachrichten haben weder eine Gegenwart noch eine gute Tonspur, denn so würde niemand wirklich reden, weil mit den gegenwartslosen und tonlosen  Zeilen nichts gesagt wird.

Und worüber man nicht reden würde, darüber braucht man nicht zu schreiben.

Wenn sie solche Leerkarten verschickt, wäre es witziger oder sinnvoller, die Nachrichten einfach zu nummerieren. Karte Nummer eins, Nummer zwei und so weiter – und das Datum dazu, sonst nichts. Dann hätte ich numerische Zeichen und könnte anders über ihre Post nachdenken. Dann könnte ich ihre Sendungen zählen und wäre damit nah an einer Erzählung, was etwa bei der Nummer tausend und eins wahrscheinlich nicht mehr spannend wäre, aber darauf könnte man es ankommen lassen. Würde sie dann alle drei Monate noch die Notiz hinzufügen, dass sie gut zurechtkomme, wäre das eine beruhigende und nicht unbedingt abgedroschene Information. Ihre Karten würden sich ehrlich ausnehmen. Es gibt nämlich eine Ehrlichkeit der Schrift beziehungsweise gibt es auch unehrliche Schriften. Auch wenn sich das Wort ehrlich heute merkwürdig ausnimmt. Sagen wir vielleicht: unverstellt. Oder: nichts vortäuschend.

Zum Stichwort vortäuschen gehört auch, dass die Tante nicht wirklich meine Tante ist, sie nennt sich so, sie ist eine selbst ernannte Tante. Das zeigt auch ihre Schrift. Und wenn ich ihre Buchstaben gerne gegen Zahlen eintauschen würde, möchte ich nicht etwa das Zählen gegen das Erzählen ausspielen. Das möchte ich nie, im Gegenteil! Der Zusammenhang zwischen den beiden Wörtern gefällt mir schon lang, das Zählen und das Erzählen gehören zusammen.

Wenn aber jemand nichts zu erzählen hat, soll er sich vielleicht andere Mittel suchen und mit der schönen blauen Tinte (oder der schwarzen, grauen, braunen, grünen Tinte) zu zeichnen beginnen oder mit einem feinen Pinsel und Tusche Postkarten bemalen oder die arabische Schrift nachzustellen versuchen. Und wenn das alles nicht hilft, könnte man im oben erwähnten Fall einfach nur Tante auf die Karte schreiben. Allmählich würde das Wort dann einen veränderten Sinn erhalten, was vielleicht auch die Schrift beleben würde.